Privater Kummer am Arbeitsplatz

Vor Kummer fast eingehen, aber trotzdem funktionieren: Bei der Arbeit über private Sorgen oder Schicksalsschläge zu sprechen, ist ein Tabu. Das kann Betroffene in die Tiefe reissen - und Firmen viel Geld kosten.

Von Vera Sohmer

Abend für Abend sass Rainer Zehnder* wie gelähmt vor dem Fernseher und zappte durch die Kanäle. Sein Whiskyglas hielt er dabei fest umgeklammert – und die Flasche plazierte er so, dass er zum Nachschenken nicht aufstehen musste. Dauerberieselung und Betäubung: Keine kluge Methode, um über Liebeskummer hinwegzukommen, das wusste er.

Viele wollen den Schein wahren

"Aber nach Feierabend fiel ich ins Loch", sagt der 46jährige Kadermitarbeiter. "Dreckig" gehe es ihm seit dem Tag, als seine langjährige Beziehung zerbrach. Aber am Arbeitsplatz brauchte das aber niemand zu wissen. Und erst recht nicht zu merken. Also setzte Rainer Zehnder alles daran, den Schein zu wahren und seinen Job zu machen. Als Vorgesetzter ist man schliesslich Vorbild, sagte er sich. Da liegen Durchhänger nicht drin.

Sich unter allen Umständen zur Arbeit schleppen ist in Schweizer Betrieben ein weit verbreitetes Phänomen, Präsentismus genannt. Angestellte kommen ins Büro, sind aber nicht bei der Sache. Weil sie krank sind und ins Bett gehören. Oder weil ihnen private Sorgen oder Schicksalsschläge derart auf die Seele drücken, dass die Gedanken ständig wegdriften. Wie gravierend sich das auswirkt, sei vielen Chefs und HR-Verantwortlichen nicht bewusst, betont Katharina Walser, Präsidentin des Schweizerischen Verbands für betriebliche Gesundheitsförderung und Inhaberin der Beratungsfirma Walser Consilart (siehe Nachgefragt). Nach wie vor konzentriere man sich eher auf jene Kosten, die durch Fehlzeiten entstehen.

Forcierte Anwesenheit senkt die Produktivität

Verkannt werde dabei, dass Präsentismus etwa zehnmal teurer ist als Absentismus – die Produktivität sinkt nach Angaben von Experten um 20 bis 30 Prozent. Hinzu kommen Begleitkosten durch Fehler, Unfälle, Produktionsausfälle, schlechte Arbeitsqualität oder unzufriedene Kunden, sagt Stefan Boëthius, Geschäftsleitungsmitglied des Mitarbeiter-Beratungsdienstes Icas. Dieser berät in der Schweiz rund 50 Unternehmen mit zusammen 40 000 Mitarbeitenden. Beziehungsprobleme werden als häufigster Grund genannt, wenn Angestellte oder deren Angehörige einen Psychologen oder eine Psychologin von Icas kontaktieren.

Auch Gudrun Zeller* wollte nach dem Tod ihrer Mutter schnell wieder funktionieren, wie man es von ihr gewohnt war: effizient und zuverlässig. "Aber es klappte nicht", sagt die 44jährige Medienfachfrau. So sehr sie sich bemühte, sie konnte sich nicht auf die Arbeit konzentrieren, starrte nur stundenlang auf den Computerbildschirm. Stille Verzweiflung, im Kopf die totale Leere. Dann verschwamm wieder alles vor den Augen. Sie sprang auf und schloss sich ins Klo ein – die Bürokollegen brauchten die Heulkrämpfe nicht mitzubekommen und wie sie sich dabei krümmte vor Schmerz. "Ich hatte ein Stechen in der Brust, dass ich glaubte, es zerreisst mir das Herz."

Die Furcht, als unprofessionell zu gelten

Gudrun Zeller war klar, dass sie so keine Leistung bringen konnte. Doch sie scheute sich, bei der Arbeit darüber zu sprechen, wie sehr sie litt; sie fürchtete, als unprofessionell zu gelten. Hilfe fand sie schliesslich in einer professionellen Trauerbegleitung. Hier brauchte sie sich nicht zu schämen, wenn sie von starken Emotionen gebeutelt wurde. Inzwischen ist sie wieder fähig, ihrer Arbeit nachzugehen; 100prozentig leistungsfähig fühlt sie sich aber noch nicht. "Man darf sich nichts vormachen: Es braucht Zeit, den Tod eines nahestehenden Menschen zu verarbeiten – wie lange das dauert, kann keiner sagen." Nur eines sei klar: Für die Arbeitswelt ist es zu lang.

Bei Rainer Zehnder musste es zum Kreislaufkollaps kommen, bis er begriff, dass es so nicht weitergehen konnte. Nachdem er in einem Meeting zusammengeklappt war, rückte er beim Chef mit der Wahrheit heraus. Dieser habe ein Stück weit Verständnis gezeigt, ihm jedoch auch deutlich signalisiert, dass ihm angeschlagene Kaderleute nichts nützen, und dass er ihn in absehbarer Zeit wieder fit sehen will. Rainer Zehnder konnte eine zweimonatige Auszeit nehmen, um wieder auf die Beine zu kommen. Wegen Erschöpfungsdepression, wie es offiziell hiess. Dass er pausieren konnte, dürfte in der Praxis die Ausnahme sein. "Ich würde dem Mitarbeiter anbieten, mit mir zu reden, ihm zu helfen, oder auch Hilfe für ihn suchen. Aber einen längeren Ausfall würde ich nicht tolerieren", sagt ein Firmenchef gegenüber der Handelszeitung.

Mit Problemen auseinandersetzen

In seiner "Zwangspause" hat Rainer Zehnder zwei Dinge gelernt: Zum einen, dass es nichts bringt, Trennungsschmerz übertünchen zu wollen. "Man muss sich damit auseinandersetzen, auch wenn es brutal weh tut." Zum anderen hat er inzwischen keine Hemmungen mehr, am Arbeitsplatz über seinen Kummer zu reden. Auch darüber, dass es ihn fast umgebracht hat. "Mensch, hättest du doch was gesagt", sei im Kollegenkreis eine der häufigsten Reaktionen gewesen.

Mitarbeiter mit Kummer: So können Vorgesetzte helfen

Suchen Sie das Gespräch mit dem Mitarbeiter oder der Mitarbeiterin. Und zwar nicht anklagend, sondern sachlich. Sagen Sie, was Ihnen aufgefallen ist. Und hören Sie dann aufmerksam zu. Niemand kann das Problem besser benennen als der Betroffene selbst.

Nur darüber reden, nützt nichts. Bieten Sie Hilfe an. Verweisen Sie, falls vorhanden, auf firmeninterne Stellen mit Sozialberatern, oder auf externe Beratungsstellen, bei denen sich Angestellte von Fachleuten helfen lassen können. Oder schlagen Sie dem Betroffenen vor, sich mit einem Psychologen oder Psychotherapeuten in Verbindung zu setzen.

Sichern Sie der betroffenen Person zu, dass Sie das Gespräch vertraulich behandeln. Und betonen Sie, dass keine Nachteile zu befürchten sind.

Bieten Sie sich nicht als Ersatz-Therapeut an. Es ist der falsche Ansatz, das Problem mit dem Mitarbeiter im Detail erörtern und gemeinsam lösen zu wollen. Es besteht die Gefahr, die Distanz zu verlieren. Das Thema ansprechen ist gut und richtig. Dann aber sollten Fachpersonen helfen.

* Namen geändert

Nachgefragt bei:Katharina Walser, Präsidentin des Schweizerischen Verbands für betriebliche Gesundheitsförderung, Solothurn
Sind sich Schweizer Firmenchefs und Personalverantwortliche des Präsentismus-Problems bewusst?
Zum Interview