Doktortitel: Karrieremotor oder -bremse?
3200 Doktortitel verliehen Schweizer Hochschulen im vergangenen Jahr. Doch ob sich der Aufwand einer Dissertation tatsächlich lohnt, muss jeder für sich entscheiden.
Lutz Kerner* hat Politologie, Volkswirtschaft und Humanitäre Hilfe studiert - drei Abschlüsse in fünf Jahren. "Ich hatte die Nase voll von der Uni, eine Doktorarbeit war für mich keine Option", sagt er. Stattdessen arbeitete er als Praktikant im Welternährungsprogramm. Dort hatte er auch einen regulären Job in Aussicht, doch dann mangelte es seiner Organisation an Geldern. Als das Zürcher Center for Comparative and International Studies eine Doktoratsstelle mit seinem "Traumthema" ausschrieb, griff er zu.
Schnell und praxisnah doktorieren
Die Gründe, eine Doktoratsstelle anzutreten, sind vielfältig. Bei Kerner kamen zwei Faktoren zusammen: Er hatte keinen Job und war fasziniert von dem ausgeschriebenen Thema. Andere erhoffen sich bessere Karrierechancen und höhere Gehälter oder sind beseelt vom Gedanken zu forschen. Manch einer will schlichtweg die vertraute Hochschulatmosphäre noch ein bisschen auskosten. Doch eine Dissertation ist kein Zuckerschlecken und die Frage "warum mache ich das eigentlich?" sollten sich Promotionswillige beantworten, bevor sie mit der wissenschaftlichen Arbeit anfangen, raten Barbara Messing und Klaus-Peter Huber in ihrem Ratgeber "Die Doktorarbeit: Vom Start zum Ziel".
"Ich habe mich zu Beginn meiner Doktorarbeit schon gefragt, ob ich mir mit dem Titel mehr Türen verschliesse als öffne", sagt Kerner. Denn in der humanitären Hilfe, seinem ursprünglichen Wunschberufsfeld, sind Theoretiker mit Doktorhut kaum gefragt. Überhaupt würdigen immer weniger Unternehmen die Strapazen einer Dissertation. Ausnahme: Für eine Karriere in der Forschung - egal, ob an einer akademischen Einrichtung oder in der freien Wirtschaft - ist eine Dissertation unabdingbar.
Kerner kann sich mittlerweile eine akademische Laufbahn vorstellen. Auch in den Führungsetagen von Unternehmen tummeln sich auffällig viele Doktoren, doch ob der Aufstieg ins Top-Management mit Promotion leichter gelingt, lässt sich schwer sagen. Sicher ist nur: der Titel allein ist noch kein Karrieremotor. Gute Chancen in der Industrie haben vor allem diejenigen, die ihre Dissertation zügig - Richtzeit: drei Jahre - abschliessen und praxisnah forschen. Daher lohnt es sich, schon während der Suche nach einer Doktoratsstelle bei grossen Unternehmen nachzufragen. Oft geben sie Themen für Doktorarbeiten aus und unterstützen die Doktorierenden finanziell.
Patentrezepte für die erfolgreiche Dissertation gibt es nicht
Damit sich die Doktorarbeit nicht zur Karrierebremse entwickelt, sollte das Thema mit Bedacht ausgewählt werden. Allgemein gilt: Eine statistische Arbeit lässt sich schneller abschliessen als eine experimentelle, und wer komplizierte Versuchsanordnungen erst noch entwerfen muss, kann viel Zeit verlieren - allerdings auch Erfahrung gewinnen.
Patentrezepte für das Gelingen einer Doktorarbeit gibt es aber nicht. Jeder angehende Doktorand sollte sich fragen, was ihm persönlich am besten liegt: modellieren am Computer oder tüfteln im Labor, interdisziplinär in einem grossen Projekt forschen oder im engen Rahmen des eigenen Faches, lieber in einer jungen Arbeitsgruppe mit Pioniergeist oder unter Anleitung eines erfahrenen Professors. Wer sich aber schon durch die Diplom- oder Examensarbeit gequält hat, sollte die Finger ganz von einer Dissertation lassen. Der Abbruch - und somit eine Lücke im Lebenslauf - sind hier vorprogrammiert.
Es muss auch gar nicht immer der Doktortitel sein. Den MBA (Master of Business Administration) etwa bewerten viele Arbeitgeber als gleichwertig zum Doktortitel. Der Vorteil: Der MBA lässt sich neben dem Beruf erlangen. Auch Naturwissenschaftler, die keine Forscherkarriere anstreben, sind mit alternativen Zusatzqualifikationen, beispielsweise ein paar Semestern Betriebswirtschaft, oder mit dem Einstieg in ein Trainee-Programm oft besser bedient.
Hat Frau Doktor es leichter?
"Eine wissenschaftliche Karriere habe ich nicht angestrebt. Warum also sollte ich vier Jahre in eine Doktorarbeit investieren?", sagte sich die Physikerin Anna Schmid* nach ihrem Studium an der Universität Zürich. Das Angebot einer Doktoratsstelle hat sie abgelehnt und stattdessen ein Volontariat in einer Zeitungsredaktion angetreten. Heute arbeitet sie als fest angestellte Wissenschaftsredakteurin. "Das Wissen aus meinem Studium brauche ich für meinen Job", betont sie, "aber die Fachkenntnisse einer Dissertation würden mich beruflich nicht weiter bringen." Und promovieren aus Prestigegründen ist ihre Sache nicht.
Dabei heisst es, dass Frauen von einer Promotion besonders profitieren, weil ihre Kompetenz und Autorität dann nicht mehr so leicht in Frage gestellt wird. Laut Angaben des Bundesamtes für Statistik hat sich der Anteil von Frauen unter den frisch Promovierten in den Jahren 1990 bis 2006 auf rund 40 Prozent fast verdoppelt. Das beste Mittel, um sich als Frau im Berufsalltag zu behaupten, ist für Anna Schmid aber nicht der Doktortitel. "Es ist eine Frage des Selbstbewusstseins", betont sie. Sie jedenfalls hat den Titel noch nicht vermisst.
(Uta Neubauer, 2007)
*Name von der Redaktion geändert