Die Harmoniefalle

von Monster Contributor

Wer im Berufsleben bei jedermann beliebt sein will, erreicht oftmals nur eines: den Respekt seiner Kollegen zu verlieren. Das behauptet die Management-Trainerin Irene Becker in ihrem Buch "Everybody's Darling, everybody's Depp" - und warnt vor der Harmoniefalle. 

Frau Becker, für ein gutes Klima zu sorgen ist doch eine ehrenwerte Sache. Wo liegt das Problem?
Problematisch wird es dann, wenn ein Arbeitnehmer immer "Ja" sagt, um jedem Kollegen einen Gefallen zu tun. Auf Dauer bedeutet das Überlastung für die "Ja-Sager". Denn sie müssen nicht nur die Wünsche ihrer Umgebung erfüllen, sondern auch ihre Arbeit erledigen. So kann es sein, dass sie in Stress geraten und schliesslich unzufrieden werden.

Wer bei Kollegen und Chefs beliebt ist, macht sich vielleicht unentbehrlich. Ist das Stress, der sich lohnt?
Nach meiner Erfahrung zählen in Unternehmen sowohl die Leistung als auch die Beliebtheit von Mitarbeitern. Leistungsträger sind nicht automatisch beliebt. Bei Mitarbeitern mit Harmoniesucht gibt es oft das Problem, dass sie ihre Prioritäten falsch oder gar nicht setzen. So hat etwa ein Gefühlsbedürfnis die Priorität vor einer sachlichen Notwendigkeit. Ausserdem sollten Mitarbeiter mit ausgeprägtem Helfersyndrom bedenken, dass es zwar nett ist, den Kollegen auf Anfrage mit ihrer Powerpointpräsentation zu helfen, dass aber ungebetene Hilfe schnell als Übergriff verstanden wird. Zudem wird übertrieben hilfsbereites Verhalten oft als eher suspektes Einschmeicheln empfunden. Das Team und das Unternehmen brauchen aber keine "Schleimer", sondern engagierte Mitarbeiter, die auch einmal eine Idee gegen vorschnelle Kritik verteidigen können.

Ein hilfsbereiter Kollege ist doch eine gute Sache - wenn er mir lästige Arbiet abnimmt.
Aber auf Dauer stört dieses Verhalten die Balance von Geben und Nehmen. Und die sollte in einem Team stimmen. Man darf nicht vergessen, dass so ein Verhalten auch Unwillen hervorrufen kann, weil alle anderen dankbar sein müssen.

Also erreichen Harmoniesüchtige gar nicht das, was sie eigentlich erreichen wollen?
Genau. Eigentlich geht es im Berufsleben nicht um Beliebtheit, sondern um Respekt. Im Grunde will niemand nur ein netter und bequemer Mitarbeiter sein, der von niemanden ernst genommen wird. Aber genau dieser Respekt der Kollegen und Chefs kann bei übermässigem Streben nach Harmonie verloren gehen. Jemand, der nie eine wahrnehmbare eigene Meinung hat, allem und jedem lächelnd zustimmt und übereifrig bereit ist, auch die stupidesten Arbeiten klaglos immer selbst zu übernehmen, wird auf Dauer eher belächelt. Im Berufsleben ist es notwendig, auch Grenzen aufzuzeigen und ein wahrnehmbares Profil zu haben.

Wo liegt denn die Grenze zwischen angebrachter Kollegialität und Harmoniesucht?
Wenn jemand Hilfe und Unterstützung braucht, bekommt er sie im Rahmen der Kollegialität natürlich. Wenn ein Kollege aber einfach zu bequem oder zu faul ist, dann ist auf Dauer ein freundliches, aber bestimmtes Nein viel angemessener.

Für wen kann Harmoniestreben zur Gefahr werden?
Dieses Problem gibt es auf allen Ebenen. Schliesslich will jeder bei seinen Kollegen und Chefs einen guten Stand haben. Hinzu kommt, dass durch die schlechte Arbeitsmarktsituation der Druck am Arbeitsplatz gestiegen ist. Allerdings tappen öfter Frauen als Männer in die Harmoniefalle. Denn es gibt immer noch Mitarbeiterinnen, die dem Bild einer eher sanften Frau entsprechen wollen, die für das gute Klima im Büro zuständig ist. Auch Berufsanfänger stehen manchmal vor dem Problem, dass sie sich zu viel gefallen lassen.

Was können Arbeitnehmer machen, wenn ihr Harmoniebedürfnis für sie zur Belastung wird?
Dann müssen sie die Notbremse ziehen. Allerdings können Menschen ihre Gewohnheiten nicht schnell abschalten. Sie haben in der Regel Angst, mit ihrem "Nein" einen Konflikt heraufzubeschwören. Um grundsätzlich etwas am eigenen "Ja-Sagen" zu ändern, hilft die Erfahrung, dass keine Katastrophe passiert, wenn ewige Ja-Sager mal "Nein" sagen.

Wie übt ein "Ja-Sager" das Nein-Sagen?
Indem er mit kleinen Dingen anfängt. Wenn ein Kollege etwa äussert, dass der Kaffee leer ist, sollte eine Betroffene eben nicht neuen aufsetzen, sondern nur "stimmt" sagen. Bei anderen Anfragen sollten Harmoniesüchtige um Bedenkzeit bitten und nicht sofort zustimmen. Die Reaktion der Kollegen wird viele überraschen. Sie sind zwar nicht mehr everybody's Darling, aber sie bleiben somebody's Darling. Denn sie werden als eigenständige Persönlichkeit wahrgenommen.

Und wenn es nicht klappt?
Es kann sein, dass Betroffene schon so sehr auf ihre Rolle festgelegt sind, dass sie nicht mehr herauskommen. Dann sollten sie sich überlegen, das Umfeld zu wechseln.

Wenn Harmonie so oft ein Problem ist, kann dann Aggressivität die Lösung sein?
Übersteigerte Aggressivität ist nur das andere Ende der Skala und ebenso kontraproduktiv. Ein gesunder Biss und angemessenes Durchsetzungsvermögen liegen irgendwo dazwischen. Sie sind der goldene Mittelweg, der auf Dauer zum Erfolg führt.

(Interview: Anja Schreiber, 2005)

Irene Becker
(49) ist Diplom-Kauffrau und war zehn Jahre im internationalen Vertrieb und im Trainingscenter der Siemens AG tätig. Seit 1990 arbeitet die Autorin von Fachbüchern als Managementtrainerin und -beraterin im Bereich Personal- und Organisationsentwicklung mit Schwerpunkten wie Führung, Präsentation sowie Stress-, Selbst- und Konfliktmanagement.